Bei der Preisverleihung des bundesweiten Jugendwettbewerbs „Denkt@g“ der Konrad-Adenauer-Stiftung nahm eine Delegation unserer Schule am 06. September 2021 den mit 2000 € dotierten Preis von Bundestagspräsident a.D. Prof. Dr. Norbert Lammert in der Berliner James-Simon-Galerie entgegen. Ausgezeichnet wurde eine im Rahmen des Projekts „We, the six million“ erstellte Website, die bei der Jury großen Zuspruch erntete.
Es herrschte eine freudig-angespannte Stimmung, als Moderation Sarah Röhr vier ehemalige Schülerinnen des Gymnasiums Odenkirchen mit ihrer Lehrerin Kathrin Laule auf die Bühne des Auditoriums in der James-Simon-Galerie bat. Euphorie, allmählich von den Schultern der fünf fallende Spannung, gedämpfte Jubelrufe auf dem Weg die Tribune hinunter, aber auch ein Hauch des Nachdenkens lagen in der Luft, während Andreas Kleine-Kraneburg, stellvertretender Leiter der politischen Bildung der Konrad-Adenauer-Stiftung, nach den Urkunden und fünf blau-weiß-schwarzen Bauchtaschen mit dem Logo der Stiftung kramte.
Bereits zum elften Mal kamen am 05. und 06. September 2021 Schüler*innen, Studierende und engagierte junge Menschen im Alter von 16 bis 22 Jahren auf Einladung der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin zusammen, um Auszeichnungen im Rahmen des bundesweiten Jugendwettbewerbs „Denkt@g“ entgegenzunehmen. Auf höchst vielfältige Weise setzten sich bei diesem Wettbewerb rund 50 Teilnehmer*innen aus allen Ecken der Bundesrepublik mit Themen wie der NS-Diktatur und dem Holocaust, aber auch mit Antisemitismus, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in der heutigen Zeit auseinander und erstellten zu ihren mannigfaltigen Projekten eigene Websites, unter denen eine Fachjury zu Beginn des Jahres die 14 besten Gruppen auswählte, deren besonderer Moment an genau jenem Tag der freudig-angespannten Stimmung gekommen war. Besonders war freilich auch der Umstand, dass die gesamte Veranstaltung in Präsenz stattfinden konnte, wurde die Preisverleihung doch mehrfach aufgrund wenig erfreulicher Corona-Inzidenzwerte verschoben und stand sogar kurz vor Beginn noch wegen des GDL-Streiks auf wackligen Füßen – aber sie stand, ebenso wie unsere Odenkirchener in Berlin standen.
Diese Damenrunde stand natürlich auch nicht ganz zufällig in Berlin, schließlich vertrat sie gleich mehrere Klassen und Kurse der ehemaligen Jahrgänge 8-Q2, von denen einige – wie unsere vier Ex-Schülerinnen – die Schule bereits im vergangenen Juni mit dem Abiturzeugnis in der Hand verlassen hatten. Mehrere dutzend Schüler*innen dieser Jahrgänge arbeiteten im vergangenen Herbst und Winter 2020 an dem Projekt „We, the six million“ in Kooperation mit der RWTH Aachen, für das ein kleiner Kreis um die Geschichtslehrerinnen Kathrin Laule, Carolin Beberok und einige Q2-Schüler*innen im Anschluss an die Ausstellung spontan eine Website mit allen Podcasts, Plakaten, Reden, Videos und Statements der verschiedenen Kurse erstellte, die rasch wuchs und schließlich bei der Denkt@g-Jury überzeugen konnte.
So traf es sich, dass sich unsere fünfköpfige Reisegruppe nach einer mehrstündigen, abenteuerlichen, alternativen Anreise mit dem Flixtrain (beste Grüße an die streikende Bahn!), die von retrograder Peristaltik über sonderlaunig-glatzköpfige Sitznachbarn bis hin zu leichter Orientierungslosigkeit getreu dem Motto „Hamm, Hannover, Hauptsache Duisburg“ wirklich alles beinhaltete, ein wenig gerädert und beladen mit circa anderthalb Kilogramm Zitronenkuchen am Berliner Hauptbahnhof einfand. Coronabedingt war die Gruppe nach vielen Änderungen der Teilnehmerbeschränkungen etwas geschrumpft, aber immerhin hatte sie den freundlichen Hinweis des Lokführers Axel befolgt, bitte die persönlichen Sachen nicht im Zug zurückzulassen, da in den Regalen des Fundbüros kein Platz für Partner, Ehepartner und sonstige Partner (wie Reisepartner) sei.
Wie sich schnell herausstellte, hatte die Orientierungslosigkeit einiger Zugpassagiere auch vor den fünf abenteuererprobten Reisenden nicht Halt gemacht, und so irrte unsere Gruppe vor dem Erreichen des Hotels am Alexanderplatz erst einmal eine ganze Weile die Alexanderstraße – vorbei am „Haus des Lehrers“ – hoch und runter, auf der der Rollkoffer einer Mitreisenden freilich sein Leben – oder vielmehr den Griff der Metallhalterung – an den Schienen einer Straßenbahn ließ.
Endlich im Hotel angekommen, ging das Umherirren auch schon direkt weiter, diesmal zum Bayerischen Hofbräu Wirtshaus mitten in Berlin, wo die anderen Reisegruppen sich bereits von ihrer gewiss ebenfalls abenteuerlichen Anreise erholten und stärkten. Doch auch dort verweilte die Gladbacher Reisegruppe nicht sonderlich lange und musste ihr Mittagessen mit den Worten „Stressen Sie sich nicht, aber wir wollen in acht Minuten weiterlaufen“ in Rekordzeit verspeisen (ein Glück, dass sich im Gepäck immer noch die anderthalb Kilo Zitronenkuchen befanden), bevor sie gemeinsam mit den anderen Gruppen zum Centrum Judaicum wanderte.
Während ein Teil des nun recht großen, heterogenen Gruppengemischs dort mit einer Führung startete, wanderten die fünf Odenkirchener mit der anderen Hälfte der Preisträgergruppen sowie David und Jakob, den beiden Guides des Centrum Judaicum, wieder einen halben Kilometer zurück, um im jüdischen Viertel der Stadt auf Spurensuche zu gehen. Besonders haften blieben bei diesem Rundgang die vielen zunächst unscheinbaren Spuren der Zerstörung: Schusslöcher in einer Wand vor der evangelischen Sophienkirche, einem Ort des Widerstands gegen das NS-Regime, das nachempfundene Fundament eines zerstörten Altenheims, das seinerzeit den Blick auf den jüdischen Friedhof und damit die dort Schutz Suchenden verbarg… stets wurden die Zuhörenden mit der Frage konfrontiert, wie viel sie eigentlich wussten, erkennen konnten, nun erkennen – was alle, die an solchen geschichtsträchtigen Orten vorbeilaufen, sehen, sehen wollen und sehen sollten. Denn seien wir mal ehrlich: Wer liest sich jede der vielen kleinen Infotafeln, die man häufig an solchen Orten findet, durch? Wer nimmt sich die Zeit, stehen zu bleiben und nochmal einen Blick zurück zu werfen? Und wer möchte nicht auch einfach mal über den fundamentgestaltigen Boden tänzeln, ohne dabei gleich ins Grübeln zu verfallen?
Die Frage nach dem richtigen Weg des Erinnerns – wenn es denn den einen gibt – ließ die Gruppe auch bei der Rückkehr zum Centrum Judaicum nicht los, dessen Besuch sie sogar nochmal in eine ganz neue Richtung lenkte, schließlich handelt es sich beim Centrum Judaicum um die Überreste der 1943 bei Bombenangriffen schwer beschädigten Neuen Synagoge Berlins, bei denen man zugleich auf Wiederaufbau und das Sichtbarmachen der Spuren der Zerstörung, beispielsweise durch markierte Steine, die den Grundriss der zerstörten Bereiche erahnen ließen, setzte. Das Centrum Judaicum ist jedoch weitaus mehr als das, wie David seiner Gruppe schnell deutlich machte: Obgleich zahlreiche Antisemiten das imposante Bauwerk als „nicht deutsche“ Provokation empfunden hätten, führte er aus, sei es doch auch ein deutliches Mal der Assimilation der jüdischen Gemeinde, wie man beispielsweise am Bau des Mittelschiffes erkennen könne, das kaum von dem einer christlichen Kathedrale zu unterscheiden sei. Immer wieder wurde die Frage in den Raum geworfen, was die Assimilation der jüdischen Gemeinde genutzt habe. Davids bittere Antwort darauf lautete im Angesicht des grausamen Schicksals dieses kulturell vielfältigen Ortes: „Nichts“.
Am Ende der Führung brachte der etwas nachdenklich gewordene Guide seine Schützlinge schließlich in einen Raum, den die meisten Schüler*innen vermutlich noch nie betreten haben: einen kleinen, auf den ersten Blick ziemlich unscheinbaren Gebetsraum, in dem tatsächlich noch Gottesdienste der jüdischen Gemeinde stattfinden. Ein wenig wie in einem altmodischen, schlichten und trotzdem eleganten Klassenraum sah es dort aus, mit knarzenden Holzbänken und dazu passenden Tischen mit verschließbaren Schubladen. Mit viel Geduld und Offenheit stellte sich David allen Fragen, die schon immer mal gestellt werden wollten, und nahm sicherlich nicht nur der Autorin dieses Reiseberichts das Gefühl des unerklärlichen, schein-intrinsischen Fremden, das sie bis dahin mit ihr unbekannten Gotteshäusern anderer Religionen verbunden hatte. Würden solche Begegnungen doch alltäglich sein!
„Open ye the gates“ – „Tuet auf die Pforten“, lautet da eine treffende biblische Inschrift, an der die Odenkirchener beim Verlassen des Museums vorbeiliefen und die gleichzeitig zweischneidiger nicht sein könnte, wenn man bedenkt, dass der Einlass in das Centrum Judaicum massiven Sicherheitskontrollen unterliegt, die kaum deutlicher machen könnten, dass Antisemitismus und Hass auch in Deutschland, auch mit unserer Geschichte keineswegs ausgerottet sind. Eine freimütige Öffnung der Pforten geht so stets mit der Gefahr einher, dass die offenen Türen eingerissen, zerstört und danach vielleicht nie mehr geöffnet werden können – und noch schlimmer: dass sie den Raum hinter ihnen nicht mehr schützen können. Wer sich also die Frage stellt, ob die Pforten geöffnet werden sollten, muss seine eigene Gedankenführung daher simultan mit der Frage denken, warum es solche Pforten in unserer Welt überhaupt gibt. Die Autorin dieses Artikels wagt daher eine etwas umgeformte Betrachtung: Open ye all your gates! Tuet ihr alle auf eure Pforten! Denn sind Begegnungen, wie sie unsere Reisegruppe erleben durfte, nicht solche, die von allen Seiten ausgehen müssen, damit wir nicht nur nach der geschlossenen, sondern vielmehr auch nach der offenen Tür blicken können? Damit wir erkennen können, dass das vermeintlich Fremde im Grunde nichts anderes ist als ein Spiegelbild unseres eigenen undefinierbaren Unbekannten?
Um den facettenreichen Tag so spannend zu beenden zu, wie er in aller Frühe begonnen hatte, machte sich das Odenkirchener Quintett nach einem kurzen Zwischenstopp im Hotel auf in die Abenddämmerung der Hauptstadt. Vorbei an den Spuren des Hauses in der Dorotheenstraße, die das Herz einer gewissen Deutschlehrerin in der Runde gewiss höher schlagen ließen, ging es immer den Menschen – oder vielmehr den Lichtern – nach, die sich für eine im wahrsten Sinne des Wortes schillernde Lichtkunstinstallation im Rahmen des „Festival of Lights“ am Brandenburger Tor bündelten und die sonst so lebhafte Masse für einige Minuten zum Innehalten und Staunen brachten. Auch zum nächsten „Stopp“ am Potsdamer Platz begleiteten die Lichter – und Menschen – die Gladbacher, die jedoch bereits ein anderes Ziel in Gestalt des mexikanischen Restaurants „Que Pasa“ vor Augen hatten, um den Abend dort ausklingen zu lassen.
Halbzeit. Nach einem gefühlt 34 Stunden langen Tag, der nur so vor Bildern, Impressionen, Stimmen, Statements und Fragen strotzte, wirkte die Nacht, in der eine Stadt wie Berlin natürlich auch nicht in die Tiefschlafphase rutscht, beinahe gespenstisch still. Während sich ihre Zimmernachbarin über eine Kekstüte in ihrem Koffer hermachte, um den Tag so auf ihre Art zu verdauen, entschied sich die Autorin dieses Artikels doch lieber für eine etwas immateriellere Form der Reflexion und ließ noch einmal die Fragen des Tages durch die Nacht hallen (natürlich rein gedanklich, sonst hätte man die fortwährend nebenan raschelnde Kekstüte sicherlich nicht hören können).
Was machten sie hier eigentlich in Berlin, zwischen unbändiger Ausgelassenheit und grübelndem Innehalten pendelnd, wie ein Uhrzeiger, der hängen geblieben war und andauernd zwischen der zwölf und der eins hin und her sauste? War ein solches Atmosphären- und Stimmungspendel im Angesicht des Themas, das die Gruppe überhaupt erst nach Berlin gebracht hatte, angemessen? Und wie offen waren sie alle wirklich für die unzähligen Spuren, Hinweise, Zeitstempel, über die sie auch außerhalb von Berlin tagtäglich eilten? Wie selbstverständlich war das Leben mit der Geschichte heute – und wie selbstverständlich das Leben mit dem Vergilben und Vergessen, dem Nicht-Wahrnehmen? Wie stark verstärkte das Vergessen das Unbekannte, oder doch das Unbekannte das Vergessen? Und waren wir alle uns mit unseren Ängsten, unserer Neugier, unseren Hoffnungen, Grundsätzen und Glaubenswegen nicht doch ähnlicher, als es das Gefühl des Unbekannten sonst zuließ? Wie viele Sprachen hatte die Botschaft „Tuet auf die Pforten“ wohl nötig, damit sie jeder, auch der Bittsteller, mit einem „Ich öffne meine Pforten“ beantworten würde? Und was sollte wohl hinter den persönlichen Pforten jedes Einzelnen zu finden sein, wenn sich doch jeder schon selbst zu kennen glaubte? All das spiegelt sich in der Frage nach individueller Verantwortung für die Zukunft als Teil der Gegenwart und Brücke der Vergangenheit wider – der Frage nach dem eigenen Platz in der Erinnerungskultur.
Das alles ist Berlin. Das alles sind wir. Das alles ist unser Gebäude der Erinnerungskultur. Sind wir vielleicht selbst die Pforten? Pförtner? Schlüssel? Passanten?
Viel zu kurz erschien die Nacht für all diese Gedanken, da konnte auch ein ausgiebiges Frühstück mit Zahntrainingsbrötchen am nächsten Morgen nicht gegen die Müdigkeit ankämpfen, bevor die Odenkirchener mit ihrem materiellen wie gedanklichen Gepäck vom Hotel zur Museumsinsel aufbrachen (das lädierte, grifflose Kofferproblem erfreute sich seinerseits einer ebenfalls einer nächtlichen Grübelei entsprungenen Improvisationslösung und ließ sich fortan wie ein schlecht erzogener Hund mehr oder weniger elegant die Rolltreppen hinaufzerren). Ein Glück, dass die rappelige Straßenbahnfahrt mitten im montäglichen Berufsverkehr die müden Lebensgeister ordentlich wachrüttelte und sogar zu ein paar „Prinzessinnenfotos“ vor der Kulisse des Lustgartens animierte, bevor sich die Pforten der James-Simon-Galerie für die in Blazern und Absatzschuhen erstaunlich seriös wirkende Gruppe öffneten und nach einigen Minuten des Wartens und Ausweichens vor einem hochmotivierten Fotografen den Blick auf das Auditorium freigaben, in dem die Preisverleihung stattfinden sollte.
Wie sich herausstellte, hatte es der Sitzplanmacher mit den Odenkirchenern gut gemeint und ihnen eine ideale Pole-Position in unmittelbarer Nähe der Bühne verschafft, auf der die Moderatoren Sarah Röhr und Andreas Kleine-Kraneburg unentwegt nach den blau-weiß-schwarzen Bauchtaschen kramten. Los ging es mit einem klangvollen Auftakt des israelischen Komponisten und Pianisten Itay Dvori, der im Laufe der Veranstaltung mit dem von ihm entwickelten Genre des Comic-Konzerts, einer Vertonung sogenannter Graphic Novels, die unter anderem bildhaft Geschichten von verfolgten und emigrierten Persönlichkeiten erzählen, noch viele weitere musikalische Akzente setzen sollte. Nicht minder beeindruckend als Dvoris virtuose Darbietungen am Konzertflügel waren die Vorstellungen der 14 Projekte, die es bis nach Berlin geschafft hatten. Zu jeder Website hatten die Verantwortlichen der Konrad-Adenauer-Stiftung eine kleine Präsentation mit dem jeweiligen Juryurteil erstellt, um einen Überblick über die enorme Bandbreite der Projekte zu liefern. Egal ob ausdruckstänzerische Videobeiträge, eine Radtour von Auschwitz nach Berlin, tagebuchähnliche Auseinandersetzungen mit Gedenkstättenfahrten, digitale Stolpersteine oder Straßenumbenennungen: Auf eine sehr anschauliche Weise zeigte die Veranstaltung, wie vielfältig die Formen, Leinwände und Ausdrucksmöglichkeiten der Erinnerungskultur sein können und wie sich spontane Stadtbummelgedanken zu einem großen Erinnerungsprojekt entwickeln können.
Eine Entwicklung durchlief gleichzeitig auch die Anspannung der anwesenden Gruppen, die mit jeder Minute ein exponentielles Wachstum verzeichnete. Begonnen wurde mit neun Anerkennungspreisen ohne Platzierung, die nacheinander auf die Bühne gebeten wurden, um jeweils im Anschluss an die Präsentation ihres Projekts ein kurzes Interview mit Sarah Röhr zu führen und mit den blau-weiß-schwarzen Bauchtaschen, die nun endlich zum Einsatz kamen, für ein Foto zu posieren.
Nach der Verleihung der Anerkennungspreise gesellte sich ein besonderer Gast in Form des Bundestagspräsidenten a.D. und Schirmherrn des Denkt@g-Wettbewerbs Prof. Dr. Norbert Lammert zur Veranstaltung hinzu, der im Gespräch mit Sarah Röhr und dem ebenfalls anwesenden Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Dr. Felix Klein, neben einem Einblick in den Alltag eines Bundestagspräsidenten auch ein deutliches Plädoyer für Demokratie und persönliches politisches wie gesellschaftliches Engagement vortrug, in dem er an die Anwesenden appellierte, ihre verschiedenen Arbeiten gegen Hass, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus fortzusetzen, so schwierig manche Arbeitsetappen auch sein mochten.
Dr. Felix Klein brachte wiederum zum Ausdruck, dass es nicht den „einen“ Antisemitismus gebe und die vielen verschiedenen Formen des Antisemitismus, die alle gleichsam abzulehnen seien, verschiedene Formen der Bekämpfung, wie sie sich in den unterschiedlichen Projekten wiederfänden, geradezu forderten.
Der Beitrag „We, the six million“ des Gymnasiums Odenkirchen erreichte unter den anschließend geehrten fünf Bestplatzierten schließlich einen hervorragenden zweiten Platz, den die nach Berlin gereiste Delegation gemeinsam mit 2000 € Preisgeld, den begehrten blau-weiß-schwarzen Bauchtaschen und blau-weiß-türkisen Urkunden von Prof. Dr. Lammert entgegennehmen durfte. Die Jury lobte insbesondere die umfassende und mannigfaltige Auseinandersetzung der Schüler*innen mit den Schicksalen von Opfern der Shoah in und um Odenkirchen in Form von Briefen, Podcasts, Gedenktafeln, Stolpersteinrundwegen und Videos, die (Zitat) „wortgewaltigen Texte“ und den überzeugenden Zusammenhalt der Schulgemeinde während der „Lichteraktion gegen Antisemitismus“ als Reaktion auf die Schändung des Grabes von Herrn Manfred Leven. Auch ging Moderator Kleine-Kraneburg auf den titelgebenden Satz „We, the six million murdered people speak“ aus einem Gedicht von Dr. Davin Schönberger ein, der der Projektgruppe vor allem in ihren selbst gedrehten Videos als Leitsatz für ihr Ziel diente, den Verfolgten, Ermordeten und Entwürdigten eine Stimme und damit den Respekt zu geben, der ihnen so lange verwehrt blieb.
Dieses Motiv der vielen einzelnen Stimmen, die gemeinsam eine laute Botschaft in die Welt hinaustragen, griff auch Moderatorin Sarah Röhr im anschließenden Interview mit der Verfasserin dieser Zeilen auf und hob dabei besonders Ideen wie die Stolperstein-Putzanleitung hervor, die zeigten, dass es nicht immer gleich die großen Projekte sein müssten, um sich für das Wachhalten der Erinnerung, Respekt und Toleranz einzusetzen, ebenso wie die gesamte Website zu „We, the six million“ ein Ergebnis der vielen kleinen Taten vieler Schultern ist. Ein zentrales Thema des Interviews war wie schon bei der Projektvorstellung die Reaktion der Schülergruppe auf die Schändung des Grabes von Herrn Manfred Leven in Form der Lichteraktion, die die Interviewten unweigerlich an das Zitat „Tuet auf die Pforten“ und die damit einhergehende Verantwortung erinnerte. Denn bis zum heutigen Tag steht die Vermutung eines Zusammenhangs zwischen der Grabschändung und der Öffentlichkeitsarbeit des Gymnasiums Odenkirchen im Rahmen der Aufarbeitung von Manfred Levens Geschichte im Raum, die die Odenkirchener bei ihrem Entschluss, offensiv und öffentlichkeitswirksam gegen diese unverzeihliche Tat vorzugehen, sicherlich stark ausgebremst hätte, wenn die unglaubliche Willensstärke von Manfred Levens Witwe Christel Leven sie nicht zum Weitermachen ermutigt hätte, und das unter der Gefahr, erneut zur Zielscheibe von Hass und Antisemitismus zu werden. Im Interview waren sich die Odenkirchener einig: Das Erinnern um der Gegenwart und der Zukunft Willen und der unermüdliche Kampf gegen Antisemitismus gehen uns alle an. Dieser Einsatz bedeutet aber auch, dass wir eine Verantwortung für den Schutz der Pforten, die wir zu öffnen suchen, ab dem Moment tragen, in dem wir sie sichtbar und zugänglich machen. Die von Röhr zur Website-Aussage „Wir machen weiter, auch nach der Ausstellung“ gestellte Frage, wie es nun weitergehe, knüpft daran nahtlos an, und die Odenkirchener werden weiter reden, erinnern, gedenken und aufklären, damit irgendwann mehr als die sechs Millionen sprechen.
Nach einem gemeinsamen Mittagessen aller Preisträger*innen auf der Außenterrasse der James-Simon-Galerie und einem kleinen Spaziergang am sonnenbeschienenen Reichstag vorbei hieß es dann nach fast 48 intensiven Denk(t@g)-Stunden Abschied nehmen. Während Lokführer Axel die Heimkehrenden auf geraden Schienen sicher zurück nach NRW brachte, kreisten die Gedanken der ein oder anderen immer noch um die Frage der Pfortenöffnung, die sie auch eine Woche und viele Stunden des Einlesens in die anderen ausgezeichneten Websites später nicht loslässt und vielleicht auch nicht mehr loslassen wird. Es stimmt wohl: Die Vergangenheit vergeht nie, niemals, und darf es auch gar nicht als Wegweiser der Zukunft. Ihrer Erinnerung die Pforten für die Zukunft zu öffnen, so die bescheidene Meinung der Autorin, ist unsere Aufgabe, mit allen Verantwortungen, Gratwanderungen, Abwägungen und Rückschlägen, die damit einhergehen. Doch vermutlich hat Schirmherr Lammert Recht mit seinem Appell „Dranbleiben!“, ebenso wie es viele verschiedene Stimmen des Erinnerns und Mahnens braucht, um den Stimmen des Hasses die Stimme zu verschlagen.
Es geht uns alle an. Wir sind alle Pforten und Pförtner, die die Schlüssel in der Hand haben. Du, ich, wir alle. Also: Open ye the gates – all of your gates! Tuet ihr alle eure Pforten auf!
Im Rahmen ihrer eigenen Pressemitteilung hat die Konrad-Adenauer-Stiftung die fünf bestplatzierten Denkt@g-Websites verlinkt, deren nähere Betrachtung sich durchaus lohnt. Auch sei hier noch einmal gesondert die Wettbewerbsseite zum Projekt „We, the six million“ verlinkt, das auch nach dem Wettbewerb auf einer eigenen Schulhomepage-Seite fortgeführt wird.
Ein großer Dank gilt an dieser Stelle den vielen Helfer*innen aller Altersklassen, die an der Realisierung des Projekts „We, the six million“ in vielfältiger Weise mitgewirkt haben, insbesondere Frau Beberok und Frau Laule für ihren unermüdlichen Einsatz bei der Durchführung und Vor- und Nachbereitung des Projekts, aber auch den vielen Freiwilligen, die der Website bis zum Einsendeschluss mit viel Herzblut den letzten Schliff verpasst haben.