Am Samstag, 21. September 2019, sorgte besonders ein Projekt unter den vielen bunten Attraktionen für Aufmerksamkeit und nicht zuletzt den ein oder anderen „Aha-Moment“: Der Brexit-Room – oder vielmehr die Brexit-Rooms. Hier konnten Brexit-Fans und Gegner, Briten und Europäer sich im halbstündigen Wechsel in den eigens dafür hergerichteten Escape-Rooms im Kampf für oder gegen den Brexit austoben. Wir blicken zurück.
Schon der erste Tag ließ Außenstehende erahnen, wie viel unsere Projektgruppe sich vorgenommen hatte – mit klappernden Trolleys und randvollen Reisetaschen zur Schule, diesen Anblick bekommt man schließlich nicht alle Tage geboten. Tatsächlich hatten wir die kuriosesten Gegenstände herbeigekarrt, die in Garage, Keller und Speicher vielleicht jahrelang auf einen solchen Moment gewartet hatten. Deshalb war es wohl kaum überraschend, dass unsere erste Zusammenkunft eher an einen Trödelmarkt zu erinnern vermochte – von zahlreichen Koffern über antike Bilderrahmen bis hin zu Dekoartikeln, die genau den schmalen Grat zwischen Geschmacksverirrung und Retro bildeten – kurzum: Eigentlich hatten wir nichts, was es nicht gab. Wir waren mit allen Mitteln bewaffnet, um tristen Klassenräumen neues Leben einzuhauchen. Damit sich sowohl die Raritäten als auch die Gedanken und Ideen ein wenig sammeln konnten, traf sich das Völkchen aus Marktschreiern und Nomaden zunächst zum gemeinsamen Beratschlagen, dann ging es ans Eingemachte: Die Projektgruppen wurden eingeteilt und anschließend auf die Räume C003 und C005 verteilt, um chaotischen Zuständen aus dem Weg zu gehen, sodass in den drei Tagen gleich zwei Escape-Rooms zum Leben erweckt werden konnten. Endlich sortiert, startete dann das große Grübeln über mögliche Rätsel und eine fulminante Story, die alles miteinander verbinden sollte. Fest stand: Beide Räume warteten schon am ersten Tag mit großartigen Ideen auf. Ein feierliches Festmahl mit unserem „Brexit-Friends24 e.V.“, bei dem die Bombenstimmung zu wortwörtlich genommen wurde? Oder doch lieber Nervenkitzel pur im Büro des wahnsinnigen Premiers, der Europa, wie wir es kennen, mit Machthunger und Brexit in den reinsten Irrsinn stürzen wollte? Mit größter Detailverliebtheit haben die Story-Gruppen jeweils einen Raum für jeden Geschmack entwickelt. Auch die Rätsel konnten sich bereits früh sehen lassen. Viele verschiedene Schlösser ließen Raum für die ausgefeiltesten Ideen – aus den Massen an Fotos und Postkarten schufen die Rätseldesigner Aufgaben, die selbst die klügsten Köpfe zum Rauchen brachten. Damit stand am Ende unseres ersten Tages das Grundgerüst für unsere beiden Räume, sodass wir den folgenden Tag voll und ganz in die Renovierung der Klassenräume… äh, des Büros und des Festsaals investieren konnten.
„Should I stay or should I go?“ – als die Briten dieses Lied 1982 veröffentlichten, schien wohl noch niemand ernsthaft daran zu denken, wie ungemein passend es siebenunddreißig Jahre später sein würde. Seit 2016 streiten unsere britischen Inselbewohner über den sogenannten „Brexit“, also den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Alles eine große Verschwörung? Steckt vielleicht ein durchgedrehter Premier dahinter? Und was treiben eigentlich diese Widerständler? Satirisch und mit viel Liebe zum Detail nahmen wir als Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Brexit-Room-Projekts unter der souveränen Leitung von Herrn Schwarz und Frau Laule das Unterhaus mal genauer unter die Lupe. Und wie ginge das besser, als einmal im die Haut dieser ominösen Teetrinker zu schlüpfen? Ähnlich wie die Briten aus der EU versucht man aus einem sogenannten Escape-Room zu entkommen, was oftmals gar nicht so leicht ist. Genau diese Verknüpfung versuchten wir in gerade mal zweiundsiebzig Stunden geschickt auszuschöpfen.
Und das taten wir auch, zur gleichen Zeit, am gleichen Ort, die morgendliche Müdigkeit gegenüber neugierigen Nasen aus den anderen Projektgruppen möglichst gut verbergend. Natürlich arbeiteten wir streng geheim – wo bliebe denn sonst der Nervenkitzel? Dazu zählte auch die Beschaffung der Innenausstattung, die selbstverständlich rein zufällig ihren Weg aus den Kellergewölben des C-Baus in unsere Mitte fand. Den Satz des Tages formulierte unter diesen Umständen ergo eine etwas verwirrte Physiklehrerin mit den Worten „Ich habe einen Planeten verloren“. Ein bisschen wie im „Raum der Wünsche“ sah es nun aus, nur irgendwie kleiner, schäbiger und mit dem Unterschied, dass der bloße Wunsch nach einem originalgetreuen britischen Unterhaus leider nicht ausreichte, um die perfekte Kulisse des Geschehens zu schaffen – oder zumindest eine, die im Ernstfall einer Horde marodierender, wildgewordener Brüllaffen standhalten würde. Entsprechend waren Erfindergeist und ein ausgewogenes Maß wirrer und absurder Gedanken gefragt, gepaart mit ein wenig handwerklichem Geschick bei dem Versuch, Tische mit Kreppband und anschließend doppelseitigem Klebeband mit der Widerstandskraft von Silikon zu tapezieren. Während sich die einen also am Mobiliar die Zähne ausbissen, nahmen die anderen unser zusammengekarrtes Material genauer unter die Lupe: Flaggen, winzige Telefonzellenmagnete, große Bilderrahmen, kleine Bilderrahmen, runde Bilderrahmen, eckige Bilderrahmen, Fahrradklingeln, Wecker, rostige Türklopfer, noch mehr Flaggen, Teebeutel, Teekannen, alle Arten von Koffern, hässliche Teppiche, Teppichklopfer, Lautsprecherboxen, Zahlenschlösser, Farbenschlösser, Buchstabenschlösser, Tresorschlösser und überhaupt so ziemlich alle auf dem Markt legal zu erwerbenden Arten von Schlössern – einfach alles, was sich gut umstülpen, drapieren oder untersuchen ließ. Selbst in die Irre führende Rätsel wurden eingebaut, genauso wie an tickenden Bomben, der Technik, eigenen, sehr überzeugend wirkenden Soundtracks und festlich gedeckten Tafeln gefeilt wurde. Nach einigen intensiven Arbeitsstunden bei einem den Brüllaffen gelegentlich nahekommenden konstanten Lärmpegel durch quietschende Möbel und wild gewordene Bluetooth-Boxen sowie unter dem Einfluss einer recht dominanten Lichterkette in C003, die sämtlichen Rotlichtvierteln hätte Konkurrenz machen können, konnten sich unsere beiden Escape-Rooms durchaus sehen lassen – die Metamorphose vom schäbigen, engen Klassenraum zum noch engeren, schäbig-kitschigen Hochsicherheitsraum erstrahlte nun in voller Pracht.
Tag drei, Endspurt. Der größte Teil unserer privaten Einrichtung war mittlerweile fest in unsere Räume integriert und machte sich dort vielleicht sogar besser als auf manchem Regal zu Hause. Von dem anfänglichen Charme eines wilden Garagenverkaufs war keine Spur mehr, die Escape-Rooms waren einsatzbereit und erwarteten den ersten Testlauf. Letzte Vorbereitungen wurden getroffen, die Technik wurde noch einmal überprüft und alles wurde zurechtgerückt, bis es saß. Um im kleinen Kreise unsere Räume einzuweihen, meldeten sich Einzelne aus der jeweils anderen Arbeitsgruppe, den Escape-Room ihrer Kollegen einzuweihen. So stürzten sich die wagemutigen Gruppen enthusiastisch in die inoffizielle erste Spielrunde und kämpften sich eine halbe Stunde lang durch die Rätsel. Man blickte in angestrengte, aber begeisterte Gesichter – und zugegeben, es hatte doch etwas Amüsantes, seine Freunde dabei zu beobachten, wie sie sich mühsam die Zähne ausbissen und die harte Nuss schließlich doch knackten. Nach unseren dreißigminütigen Testläufen kam die versammelte Mannschaft noch einmal zusammen, um einander Feedback zu geben. Viele Komplimente und positive Rückmeldungen, aber auch Hinweise auf kleine Schwächen im Konzept brachten die Planer ihrer Räume auf Verbesserungen und wichtige Veränderungen. Der Einsatz der Technik wurde überdacht, die Verstecke mancher Rätsel umverlegt und vielleicht noch die eine oder andere Gefahrenstelle abgesichert – selbst am letzten Tag hatten wir alle Hände voll zu tun, damit die Spiele während des Schulfests einwandfrei verliefen. Zum großen Abschluss wurde noch ein Schichtplan aufgestellt, der die Arbeitszeiten während des Festes bestimmte – dann hatten wir uns alle redlich unseren Feierabend verdient. Nach drei Tagen Planung, Renovierung und Testphase standen unsere Escape-Rooms endlich bereit für das Schulfest und neugierige Besucherinnen und Besucher aller Altersstufen.
Trotz gemeinschaftlicher Nervosität klappte dann am 21. September, dem Tag des Schulfests, alles wie am Schnürchen. Von Anfang an waren Ansturm und Begeisterung gleichermaßen groß; es wurden eifrig Codes, Lösungswörter und Hinweise kollektiviert. Die dreißig Minuten Spielzeit gingen in jedem Raum schneller um als gedacht, und die bunten Teams aus Schülern und Erwachsenen stellten so ziemlich alles auf dem Kopf, was nicht mit unseren Verbotsschildern beklebt war. Dank versetzt startender Spielrunden in den beiden Räumen konnten die einen sich auf die Suche nach dem Zepter begeben, während einer anderen Gruppe schon die Zeit und die bedrohlich tickende Bombe gleichermaßen im Nacken saßen. Und ob Brexit-Befürworter oder -Gegner, den Gesichtern der Spielerinnen und Spieler zufolge hatten die Räume sie gut unterhalten und die grauen Zellen angestrengt. Für uns ein gutes Zeichen: Unsere Arbeit hatte ihren Zweck erfüllt, und das hinterließ auch in uns Glücksgefühle.
Das Schulfest war damit auch schneller an uns vorbeigezogen als uns lieb war. Fast schon etwas traurig rissen wir am Ende des Tages unser Büro und den Festsaal ab, um wieder die altbekannte Ordnung aus uniformen Tischen, Stühlen und langweiligen Wänden herzustellen. Fotos und Postkarten landeten wieder bei ihren Besitzern, die von überall her gemopsten, äh… geborgten Stellwände und Garderobenständer brachten wir natürlich auch wieder zurück, und ja, selbst die etwas kurioseren und nicht mehr ganz zeitgenössischen Objekte reisten zeitgleich mit uns ab. Der Anblick eines normalen Klassenraums war nach dieser halben Woche im Brexit-Fieber fast ungewöhnlich. Aber wer weiß – vielleicht ist hinter der zugezogenen Tür noch etwas britischer Flair zurückgeblieben?
Mehr oder weniger wehleidig trennten wir uns also von unserem lieb gewonnenen Miniatur-Britannien; der ein oder andere liebäugelte ein letztes Mal mit der Frage „Should I stay or should I go?“, besann sich dann aber doch im Angesicht des wiedereinkehrenden Alltags auf ein „go“. Jedoch waren sich alle einig, das Projekt beim nächsten Schulfest zu wiederholen. Ob es letztlich einen richtigen „Abschied“, „Brexit“, oder wie auch immer wir es nennen wollen, sowohl für Laien britischer Mentalität wie uns, als auch für unsere britischen Nachbarn selbst irgendwann geben wird, bleibt also abzuwarten. Kann, wird es überhaupt eine Lösung geben? Wie auch immer es weitergehen mag, wir jedenfalls finden, wir haben etwas Gutes daraus gemacht – denn am Ende haben auch wir, vielleicht ganz unbewusst, ein Zeichen für tolle Zusammenarbeit gesetzt. Sei es das gemeinsame Werkeln in zwei Räumen, die ganz unterschiedliche Richtungen einschlugen, oder gerade die Teamarbeit völlig verschiedener Altersgruppen und Menschen, die sich ihren Weg durch den Urwald aus Rätseln bahnten – nur Hand in Hand ging es voran. Vielleicht sollten unsere britischen Freunde sich genau das auch zu Herzen nehmen. Denn wie Theresa May in einer berühmten Rede verlauten ließ: „We are leaving the European Union, but we are not leaving Europe.“ Und am Ende des Tages geht es nicht mehr um die Entscheidung zum Abschied, sondern um das, was die Briten daraus machen. Bis wir das so genau wissen, sind es wohl noch ein paar Wochen, womöglich noch Monate. Solange können wir wohl nur abwarten und Tee trinken; im Hinterkopf die Erinnerung an vier wunderbare Tage in unserem ganz eigenen, kleinen britischen Unterhaus.
(von Leonie Falkowski und Amelie Klauth, Q1)