„Bewegung kennt keine Grenzen“ – LernFerien 2019

Vom 21. – 25.10.2019 fanden wie in jedem Jahr die „LernFerien NRW – Begabungen fördern“ für die Sekundarstufe II statt. Anknüpfend an das diesjährige Leitthema „Bewegung“ trafen sich 25 wissbegierige Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen EF – Q2 in Duisburg, bunt zusammengewürfelt aus ganz Nordrhein-Westfalen. Auch das Gymnasium Odenkirchen war vertreten.

Acht Uhr sechsunddreißig, geparkt mitten im Ruhrgebiet mit einem Koffer, in dessen Rollen sich ständig durchnässte, gelb-rot-braune Blätter auf dem Weg zu den „LernFerien“ verfingen, den ich mit quietschenden Turnschuhen etwas missmutig hinter mir her schleifte. Herbstschule – was hatte ich mir dabei bloß gedacht?

Klar, die LernFerien waren schon eine coole Sache: Sich mit politischen, gesellschaftlichen, sozialen, ökologischen und eigentlich allen erdenklichen Fragen zu beschäftigen, die für wissbegierige, penetrante und furchtbar neugierige Schülerinnen und Schüler (zu denen ich mich als Alptraum vieler Referendare gerne hinzu zähle) im Unterricht häufig zu kurz kommen, von morgens bis abends mit „Gleichgesinnten“ und Gleichaltrigen sowie Professoren, Fachleuten, Zeitzeugen oder Menschen mit unglaublichen Geschichten zu reden und zu diskutieren, sowie neue, interessante und gewiss auch ungewöhnliche Projektmethoden zu erarbeiten, das ist inner- und außerhalb des zumeist hausaufgabenüberladenen Schulalltags einfach nicht drin. Aber ausgerechnet in den wohlverdienten Ferien? Nach einer Woche ausschlafen und rumgammeln? An einen Rückzug war an diesem Montagmorgen wohl nicht mehr zu denken.

Und so schleifte ich meinen Koffer weiter, hinein in die Jugendherberge mitten im Landschaftspark Nord in Duisburg. Ein Stockwerk, zwei Stockwerke, drei Stockwerke hoch, bis in einen gemütlichen Tagungsraum, wo mich Anna Sindermann, unsere Ansprechpartnerin für die nächsten fünf Tage, um einiges motivierter empfing. Nach und nach trudelten weitere Gestalten ein, doch bis alle Plätze besetzt waren, dauerte es noch eine geschlagene Stunde. Endlich in voller Montur versammelt, die Koffer wild im Flur zu einem großen Haufen gestapelt, ging es gegen zehn Uhr schließlich los: Kennenlernspiele aller Art, kreative Aufgaben, aber auch erste Einführungen in das doch recht komplexe Thema „Bewegung“ sowie die Festlegung der Wochenaufgabe: das Erstellen eines persönlichen Kreativtagebuchs mit Anekdoten, neuen Erkenntnissen und eigentlich allem, was uns so einfiel – und das alles ganz im Zeichen der Digitalisierung mit Tablets, Beamer und Leinwand. Einmal in hitzigen Diskussionen vertieft, verging die Zeit, die ich mir so zähflüssig und lang vorgestellt hatte, wie im Flug (um dem Thema Bewegung gerecht zu werden: Sie rannte förmlich!). Fast musste man uns schon zwingen, die wild über das Papier fahrenden Stifte für das Mittagessen beiseite zu legen, doch die noch folgenden Programmpunkte wollten wir uns natürlich nicht entgehen lassen. So starteten wir am Nachmittag mit einem theaterpädagogischen Workshop, bevor uns zwei eigens dafür eingeladene Experten im anschließenden Gebärdensprache-Workshop einen Einblick in die etwas andere Sprache gewährten. Das war in vielerlei Hinsicht eine lustige Angelegenheit, obwohl mein Gegenüber doch etwas verwirrt schien, als ich ihm statt der Gebärde für „ich“ versehentlich „ich erschieße mich“ zu vermitteln suchte – Daumen können Leben retten! Nach vielen interessanten, neuen und spannenden Eindrücken sowie einem gemeinsamen Filmabend fielen schließlich alle todmüde ins Bett.

Aber diese Ruhe währte nicht lange: Der Dienstag begann um Punkt neun Uhr mit einem interaktiven Vortrag des Wissenschaftlers Dr. Ing. Dominik Raab rund um die Bewegung von morgen: Anhand sehr genauer computersimulierter Bewegungsabläufe sowie Aufnahmen aus dem sogenannten „Standard-Ganglabor“ wurde uns der Nutzen der Robotik in der Medizin erklärt, und selbst das ein oder andere mit „Markern“ ausgestattete Känguru wurde im Rahmen der instrumentellen Bewegungsanalyse von nun überhaupt nicht mehr müden Augen kritisch unter die Lupe genommen. Am Nachmittag erwartete die euphorische Truppe dann die wohl spannendste, aber vor allem bewegendste Begegnung der Woche: Alena Ehlers, der nach einer Meningokokken-Infektion beide Hände und Füße amputiert wurden, erzählte uns mit einer bemerkenswerten Offenheit ihre leidvolle Geschichte und beantwortete unheimlich zugewandt alle leichteren, aber auch unangenehmeren Fragen. Neben lustigen und schlagfertigen Antworten wie „Man muss seine Hand nachts aufladen – das ist etwas nervig!“ ging wohl allen Beteiligten besonders ihre starke Zuversicht nahe, dank der die junge Frau sich trotz all der Tiefen nicht hat unterkriegen lassen. Und so bleibt mir besonders ein Satz im Hinterkopf: „Meine Geschichte hat mir viel genommen, sie hat mir aber auch viel gegeben.“ – bemerkenswert!
Etwas weniger bemerkenswert und mit der Ästhetik einer Horde Trampeltiere rundeten unsere nimmermüden Geister den Abend schließlich mit Milli Häuser und einem Tanzworkshop
der etwas anderen Art ab. Alles war erlaubt, der Kreativität waren keine Grenzen gesetzt – mit Ausnahme der Länge der ausgepackten „Tanzsäcke“, die scheinbar nicht für Menschen mit einer Körpergröße von 1,88m gemacht sind.

Mittwoch. Sonnenschein. Herbstwetter. Halbzeit. Zeit für ein wenig Philosophie, die gerade bei dem Begriff „Bewegung“ kaum ein Ende nimmt. Was ist Bewegung? Was ist dann Zeit? Was Veränderung? Und wie hängt das ganze Zeug eigentlich zusammen? Mit diesen und mindestens tausend weiteren Fragen bombardierte der harte Kern aus angehenden Philosophinnen und Philosophen an diesem Morgen den Philosophen und Theologen Prof. Dr. Dr. Benedikt Göcke, im Übrigen neben Anna die zweite Hälfte unseres Betreuer-Duos und daher von allen immer nur „Benny“ genannt, der mit uns in seinem Vortrag zu diachroner Identität und Substanzdualismus begeistert seine Theorien zum Wesen der Zeit, der Identität, Determinismus, Vergänglichkeit, Transzendenz, Immanenz und eigentlich zu allen erdenklichen Fragen über Gott und die Welt ausdiskutierte. Wäre Anna nicht gewesen, hätten wir vermutlich heute noch diskutiert, aber nach ein paar emsigen Diskussionsstunden brachen wir schließlich doch zum benachbarten Kletterpark, mitten im ehemaligen Hochofen, auf. Neben den steilsten und schwierigsten Kletterrouten wurden hier auch erste Filmtechniken erprobt, die am Ende der Woche die Grundlage für die ein oder andere Präsentation der Wochenaufgabe bilden sollten. Nach einer kurzen Mittagspause machte die LernFerien-Gruppe sich gegen vierzehn Uhr auf den Weg zum Lehmbruck-Museum, oder zumindest erstmal auf den Weg zur nächsten Straßenbahn, deren Auffinden für Duisburg-Unkundige wie mich schon so etwas wie die Entdeckung Amerikas war. Endlich angekommen pilgerten Kunstliebhaber und Leute, die nun genau wussten, warum sie Kunst in der EF abgewählt hatten, mit einer ansässigen Kunstexpertin quer durch das Museum, das von kleinen, mittelgroßen, lebensgroßen und übergroßen Gipsstatuen nur so wimmelte. Opfer unserer wilden Deutungsversuche wurde neben diesen starren Zeitgenossen auch eine Multimedialinstallation zur Bewegung in der Natur, die mir bis heute mehr als suspekt ist, für andere dafür aber bestimmt das, was man „Moderne Kunst“ nennt. Doch auch für künstlerische Analphabeten wie mich gab es letztlich noch ein wenig kreatives Input, als es in einem anschließenden Workshop daran ging, eine eigene Gipsfigur zu kreieren. Ich gebe zu, das Werk meiner unberufenen Hände lässt sich bestenfalls als eine unförmige Mischung aus Sandmann und Medusa beschreiben, dennoch hat es erstaunlich viel Spaß gemacht, die Impressionen des Tages mehr oder weniger professionell in einem eigenen kleinen Kunstwerk festzuhalten. Als hätte man es irgendwie erahnen können, kamen wir am Abend in unserem Tagungsraum zusammen und entschieden uns spontan einstimmig dafür, statt Gruppenspielen, Filmen, Schlafen oder all dessen, was der Otto Normalverbraucher so in seinen Ferien tut, Benny aus seinem wohl verdienten Feierabend zu reißen und die am Morgen begonnene Diskussion fortzuführen, die schließlich bis halb elf nachts andauerte. Philosophie – einfach zeitlos?

Donnerstag. Ein Wunder, dass sich der Geologe Dr. Andre Banning überhaupt noch in unsere Mitte traute, wo Benny uns nach diesem Abend doch seine frischen Augenringe zu verdanken hatte. Spannende Themen waren für das mittlerweile eingespielte Team aus ganz NRW ein willkommenes Fressen, und da zählte „Das Zeitalter des Anthropozän“ (=das menschengemachte Zeitalter) mit Sicherheit zu. Klimawandel, Umweltschutz, Kolonisierung, Urbanisierung: Mit seinem sehr anschaulich gestalteten Vortrag traf der Mineraloge genau den Geist unserer Zeit und gewährte uns zudem Einblicke in seine wissenschaftliche Arbeit, zum Beispiel die Untersuchung verschiedener Sedimente im Erdboden. Da der Klimawandel ein aktuell heiß diskutiertes Thema ist, das unter anderem durch Bewegungen wie „Fridays for Future“ in die Welt hinausgetragen wird, verwunderte es wohl kaum, dass auch wir uns neben den wissenschaftlichen, harten Fakten mit politischen Bewegungen auseinandersetzten. Vertreter der oben genannten Bewegung konnten unsere Einladung zu einer gemeinsamen Diskussion aus gesundheitlichen Gründen leider nicht wahrnehmen, dafür aber ein Fachmann in Sachen Demokratie, der mit uns schematisch die Wesensmerkmale politischer Bewegungen erarbeitete und uns anhand eines frei gewählten Fallbeispiels selbst eine politische Aktion planen und organisieren ließ. Wie viel dabei zu berücksichtigen war, wurde uns während der Arbeit in kurzerhand gebildeten Kleingruppen erst allmählich klar. Nachdem wir viel über Sicherheitsmaßnahmen, Sponsoren und Visionen gefachsimpelt und dabei wie üblich den zeitlichen Rahmen gesprengt hatten, öffnete uns ab vierzehn Uhr dreißig der Duisburger Binnenhafen (internationale Logistikdrehscheibe und größter Binnenhafen Europas) seine Pforten, durch den uns ein ansässiger Zeitzeuge mit viel Herzblut und ausschweifenden Beschreibungen rund um die Geschichte und Entwicklung des Hafens lotste, bevor es am Abend zurück in der Jugendherberge in die letzten Vorbereitungen für die Ergebnispräsentationen am Folgetag ging.

Und schon war er gekommen, der letzte Tag. Wieder einmal stapelten sich die Koffer im Flur, wieder einmal hatte ich ein flaues Gefühl im Magen, doch diesmal, weil der Gedanke irgendwie abwegig schien, meine neu gewonnenen Freunde und die über die Woche fast zu einer zweiten Familie gewordene Truppe für die nächsten Monate, vielleicht sogar die nächsten Jahre nicht mehr zu sehen. Ein letztes mal kamen wir in unserem Tagungsraum zusammen, um uns die über die Woche erarbeiteten Kurzfilme, Poetry-Slams, Vorträge, Gedichte und Anekdoten zu präsentieren. „Bewegung“ war nun für alle ein Begriff, wenn auch ein weit gefasster, doch von nun an werden die meisten von uns ihn wohl bewusster verwenden. Im Anschluss an die Präsentationen folgte ein Zusammenschnitt der Woche, festgehalten in unzähligen Fotos und Impressionen, bevor wir uns mit einem lachenden und einem weinenden Auge ein letztes Mal in den Armen lagen, bis es tatsächlich zurück in die heimischen Gefilde ging. Etwas wehleidig starrte ich auf mein Kreativtagebuch, während ich meinen Koffer zurück durch das nasse Laub schleifte. Mittlerweile hatte es die Ausmaße eines Romans angenommen. Doch das Wichtigste, was ich in dieser Woche gelernt hatte, musste überhaupt nicht mehr so sehr ausgedehnt werden:

Bewegung kennt keine Grenzen!