Antisemitismus – auch hier, auch heute, auch unter uns!

Mit großem Entsetzen erfuhr die Schulgemeinde des Gymnasiums Odenkirchen vor wenigen Tagen, dass das Grab des Odenkirchener Holocaust-Überlebenden Manfred Leven, dessen Lebensgeschichte Mitte November eine zentrale Rolle in der Ausstellung „We, the six million“ spielte, geschändet wurde. Nach Rücksprache mit Frau Leven möchten wir an dieser Stelle ein ausdrückliches Zeichen gegen Antisemitismus setzen – auch hier in Odenkirchen!

Es ist ein trauriger und in jeder Hinsicht beschämender Anblick, der sich einer Schülergruppe der Jahrgänge 8 und Q2 unserer Schule am 07.12.2020 offenbart: Bereits in der vergangenen Woche wurde das Grab des Odenkirchener Holocaust-Überlebenden Manfred Leven auf dem jüdischen Friedhof in Odenkirchen geschändet – und nach wie vor sitzt der Schock tief.

Überreste eines Blumenschmucks finden sich zwischen Scherben und Kerzenwachs, mit dem der Grabstein mutwillig beschmiert wurde; der Fuß einer Laterne, die zum Schutz vor Vandalismus im Boden verankert war, ist das Letzte, was von dem herausgerissenen Licht übrig geblieben ist. Die Verwüstung des Grabs zeugt auch Tage nach der Tat noch von dem gewaltigen Hass; die Kraftaufwendung, die für dieses furchtbare Ausmaß notwendig war, lässt alle die Zerstörungsbereitschaft, die hinter dieser verachtenswerten antisemitischen Tat steht, deutlich spüren, und selbst die sonst so vergnügten Schülerstimmen verstummen für einen Moment, als Frau Leven die Delegation der Schule auf dem Friedhof begrüßt.

Bereits am Ende der vergangenen Woche, als die Schülerinnen und Schüler in der Schule von der Grabschändung erfuhren, herrschte augenblicklich Totenstille. Ein Gefühl des Entsetzens, der Machtlosigkeit und der tiefen Ergriffenheit begleitete schon an diesem Tag den Unterricht. Schnell war für die SchülerInnen klar: Wir stehen zusammen hinter Frau Leven. Wir stellen uns gemeinsam gegen diese zutiefst entwürdigende Tat. Und doch schwingen unbegreifliche Fragen mit: Wer hat das getan? Wie kann so etwas in Deutschland – gerade in Deutschland! – geschehen? Wir dürfen die Augen nicht davor verschließen, dass der Antisemitismus in Deutschland wieder häufiger um sich greift und große Schatten auf unsere Gesellschaft wirft. „Vor Antisemitismus […] ist man nur noch auf dem Monde sicher“, schrieb die jüdische Philosophin Hannah Arendt 1941 inmitten der Wirren des Zweiten Weltkriegs. Ihre bittere Schlussfolgerung sollte uns eigentlich mehr als eine Lehre, eine Mahnung sein. Und doch gibt es sie, die antisemitischen Taten, mitten unter uns. Die entsetzlichen Taten, die durch die Medien gingen und immer noch gehen – denken wir beispielsweise an den Anschlag in Halle 2019 – halten uns immer wieder den Spiegel vor und sorgen zeitweise für große Wellen der Zivilcourage. Mit einem Schlag wird uns bewusst, dass wir die Vergangenheit nicht vergessen dürfen, ja, dass die Vergangenheit nie vergeht. Ebenso sollten uns aber auch die Taten in unserem unmittelbaren Umfeld wachrütteln, uns ebenso dazu bringen, uns gemeinsam dagegen zu stellen – und das nicht nur, wenn eine antisemitische Tat begangen wurde.

Wenn unsere Schulgemeinde Frau Leven ihren größten Respekt zuspricht, dann meint sie es auch. Es ist keineswegs selbstverständlich, sich nach so einer grausamen Tat gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern vor das verwüstete Grab des eigenen Mannes zu stellen und offen darüber zu sprechen, anstatt zu schweigen. Unsere Aufgabe, mehr noch, unsere Pflicht ist es, ihre Botschaft weiterzutragen. Manfred Leven hat nicht umsonst über sein Schicksal gesprochen, nicht umsonst Schülerinnen und Schülern seine Geschichte erzählt, nicht umsonst mit aller Kraft gegen das Vergessen gekämpft. Seine Frau Christel Leven trägt diese Botschaft nicht umsonst weiter, lässt sich nicht umsonst von derartigen Schandtaten nicht zum Schweigen bringen – und sie sind nicht allein!

Seite an Seite standen am 07.12.2020 Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Frau Leven vor dem Grab Manfred Levens. Sie taten dies nicht, um die Schandtaten, die die Täter verübt hatten, näher in Augenschein zu nehmen, obgleich niemand der Anwesenden die Augen davor verschließen konnte und wollte. Sie taten es, um die Abgründe, die die Täter aufzureißen versuchten, zu überwinden und sich gemeinsam dagegen zu stellen. Die Schänder von Manfred Levens Grab sind ein Schandfleck für unsere Gesellschaft. Sie griffen den Toten, seine Würde, seine Angehörigen an. Sie griffen den Überlebenden an, der in seinem Leben so unaussprechliches Leid erfahren hatte und trotzdem weiterkämpfte. Sie griffen den Menschen Manfred Leven an. Sie griffen damit auch unsere Gesellschaft, uns Menschen an. Aber wir werden deshalb ebenso wenig schweigen. Wir tragen die erschreckende Nachricht, aber auch die Verantwortung, die sich daraus für uns ergibt, an die Öffentlichkeit – auch deshalb lesen Sie hier, was geschehen ist. Wir tragen die Verantwortung, dass so etwas nie wieder geschieht, und mahnen an der Seite der Holocaust-Opfer und Zeitzeugen vor dem Vergessen, weil Vergangenheit niemals vergeht – nie!


Wir zünden das Licht der Laterne, das die Täter auszulöschen versuchten, wieder an.
Und es wird nicht das einzige sein: Mit diesem Schreiben rufen wir Sie und Euch dazu auf, ebenfalls die Lichter für Manfred Leven und auch alle anderen Holocaust-Opfer wieder anzuzünden und ihre Botschaft weiterzutragen. Dazu sammeln wir Bilder von Kerzen (Teelichter reichen schon aus), die Sie anzünden, die Ihr anzündet. Diese Bilder werden später zu einer großen Collage zusammengefügt und leuchten so symbolisch den Schatten, die der Antisemitismus auf uns wirft, entgegen. Alle Einsendungen werden ab sofort bis zum 10.01.2020 über die E-Mail-Adresse wtsm@gmx.de entgegengenommen. Hier geht es zum digitalen Aufruf.

Das Wachs wurde entfernt – andere Spuren sind noch zu sehen
SchülerInnen, Lehrkräfte und Frau Leven stehen gemeinsam vor dem Grab Manfred Levens