In der zweiten Herbstferienwoche fanden wie in jedem Jahr die „LernFerien NRW – Begabungen fördern“ für ausgewählte Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe II in Bochum statt. In einer durch die Corona-Pandemie bedingten recht außergewöhnlichen Form trafen elf wissbegierige TeilnehmerInnen aus ganz NRW aufeinander, um sich über das durchaus vielseitige Leitthema „Manipulation“ auszutauschen. Auch das Gymnasium Odenkirchen war wieder vertreten:
Egal ob Politikerreden, Duftaromen in Geschäften, Statistiken, die uns hier und da begegnen, oder auch schon im ganz normalen Schulunterricht: Überall in unserem Alltag werden wir beeinflusst, sei es durch soziale Medien, unsere Familie, Freunde, Religionen, Ideologien, die Werbung, Wirtschaft, unsere Gene, ja, vielleicht sogar durch uns selbst. Aber gibt es dann noch einen Bereich, in dem wir nicht beeinflusst werden? Einen Raum, der ganz und gar uns gehört? Und was hat es eigentlich mit diesem doch ziemlich voluminösen Begriff „Manipulation“ auf sich?
In der Schule bleibt für derartige Fragen leider selten Zeit, sodass sich die Ferien für philosophische Um- und Wanderwege geradezu anbieten. Und wie ginge das besser, als mit Gleichaltrigen und Experten aller Fachrichtungen ins Gespräch zu kommen? Dieses Ziel verfolgten auch die LernFerien im Herbst 2020 in Bochum, die Schülerinnen und Schülern mit unstillbarem Wissensdurst für die unterschiedlichsten Fragen und Gedanken zu einem Leitthema wie „Manipulation“ offenstehen. Zugegeben, es klingt schon verrückt, in den Ferien lernen zu wollen, oder um es mit den Worten einer Mitschülerin auszudrücken: „Haha, Lernferien mache ich auch – also Ferien vom Lernen.“
Aber obgleich es so skurril scheint, dass einigen von uns der chaotische Schulalltag samt Klausur- und Hausaufgabenstress noch nicht genügt, stelle ich rückblickend doch fest, dass ich nicht die einzige war, die sich am Montag, 19. Oktober 2020, in aller Herrgottsfrühe zum Bahnhof schleppte. Ehrlich, was hatte ich mir nur dabei gedacht? Jeden Tag zwischen dem südlichsten Zipfel Mönchengladbachs und der Bochumer Innenstadt hin- und herzupendeln, während ich auch hätte ausschlafen können, und das nur für irgendeinen Begriff? Nein, eben nicht nur für „irgendeinen“ Begriff, wie mir bereits am ersten Tag schnell klar wurde (und wie Sie vielleicht bemerkt haben, war mir das schon klar, während ich die obige rhetorische Frage stellte – Manipulation ist überall!). Um halb zehn in der Jugendherberge angekommen, eine gute halbe Stunde zu früh, begrüßten mich Lina und Malte, unsere Betreuer für die anstehenden fünf Tage, nach einer chaotischen Reise über sämtliche Bahnhöfe, die das Ruhrgebiet zu bieten hat, für zwei Lehrer im Ferienmodus überraschend herzlich und offen – ein Ablauf, der sich in den folgenden Tagen wiederholen sollte. Auch die Anwesenheitsliste, Desinfektionsmittel, Abstandsregeln und Mund-Nasen-Masken außerhalb des festen Sitzplatzes gehörten von Anfang an zur Routine – aber wie sollte es derzeit auch anders gehen, wenn Menschen aus sämtlichen Ecken von NRW zusammenkommen? Nur der öffentliche Nahverkehr wollte sich partout nicht auf den Wochenplan einlassen, sorgte er doch immer wieder aufs Neue für die verrücktesten Ankunftszeiten und machte damit jede Zeitplanung zunichte. Aber was wäre das Leben ohne Überraschungen und gestrandete Teilnehmer in Wanne-Eickel?
Endlich versammelt, fing die Meute dann am späten Vormittag nach einer kleinen Kennenlernrunde mit einem ersten Brainstorming an. Werden wir durch unsere Gene beeinflusst? Ist Manipulation mit Beeinflussung gleichzusetzen? Was ist eigentlich objektiv? Bereits nach wenigen Minuten verloren wir uns schon in interessanten Diskussionen und Debatten, die den Zeitplansprengungen des ÖPNV garantiert hätten Konkurrenz machen können. Aber so theoretisch sind die LernFerien nun auch wieder nicht, und so übten sich die angehenden Philosophen am Nachmittag in fulminant-wunderlichen Escape-Rooms, die nicht nur das zeitliche Chaos perfekt machten. Eine Suche nach den Triaden, mehrere Alarmanlagen, gewisse Gefahren durch die chinesische Mafia und eine wilde Verschwörung einer Terrorgruppe später war der erste Tag dann ziemlich schnell vorüber. Wer sollte uns jetzt noch um den Finger wickeln?
Das fragten wir uns tatsächlich, als uns Marcel Beyer (Universität Bielefeld) am Dienstag die Manipulation als gesellschaftliches Phänomen näherzubringen suchte. Während „Framing“ einigen von uns dank des Unterrichts engagierter Deutschlehrerpersönlichkeiten bereits als Phänomen vertraut war, schienen persönliche, onthologische und Meta-Narrative, metaphorisches Mapping, Hypokognition und Containerbegriffe zunächst Neuland zu sein, konnten aber nach wenigen Beispielen bereits erfolgreich auf die ersten Alltagsphänomene angewendet werden. Egal ob US-Wahlkampf, Klimawandel oder American Dream: Überall fanden und finden sich Beispiele dafür, wie Menschen in bestimmte Richtungen gelenkt werden.
„Ich kann nicht nicht framen.“ (Marcel Beyer)
Wie wirkungsvoll diese „Richtungsweiser“ sind, wurde uns aber erst durch ein Selbstexperiment am Beispiel des Framings bewusst: Bei Frames handelt es sich um sprachliche Deutungsrahmen. Dabei sind die Aussagen an sich nicht zwingend falsch, haben aber eine verfälschende oder zumindest beeinflussende Wirkung. Dieses Prinzip der Sprachwissenschaft machten wir uns mittels eines Fragebogens zunutze – oder vielmehr drei Fragebögen, die fast identisch aufgebaut waren. Fast. Zwar waren in allen Versionen der Aufbau, die Fragen und Texte völlig identisch, jedoch formulierten wir das Thema „Computerspiele als olympische Disziplin“ (Kontrollgruppe), das wir nach eingehender Diskussion wählten, ohne dass es direkt etwas mit Manipulation zu tun hätte, jeweils ein wenig um, nämlich in „Zocken als olympische Disziplin“ (negatives Framing) einerseits und „E-Sport als olympische Disziplin“ (positives Framing) andererseits. Da alle drei Begriffe jeweils innerhalb des Fragebogens gleich definiert wurden, sollte man rein objektiv betrachtet bei einer ähnlichen Zielgruppe und ähnlich vielen Befragten zu dem Schluss kommen, dass die Antworten bei allen Fragebogenversionen ähnlich ausfallen sollten. Gesagt, getan: Komplett digital und damit in jeder Hinsicht Corona-konform schickten wir unsere Fragebögen an Freunde, Klassenkameraden und entfernte Verwandte und erreichten dabei sogar teilweise Spreader-Qualitäten, obgleich der Begriff in diesen Zeiten mit Vorsicht zu genießen ist. Das Ergebnis: Unser Framing-Versuch wirkte, auch wenn wir ein paar Schwachstellen erkannten, ebenso wurde uns aber auch bewusst: Bildung und Wissen sind nicht zu unterschätzende Gegenspieler der Manipulation. Welches schönere Fazit ließe sich auf der Website einer Schule veröffentlichen?
Natürlich spielt sich Manipulation nicht nur in der Sprache ab, sondern auch in Bereichen, die auf den ersten Blick sehr neutral, man möchte fast sagen vertrauenswürdig wirken. Und so verwundert es bei näherer Betrachtung nicht, dass Professor Dr. Gerd Bosbach (bis 2019 Professor an der Hochschule Koblenz) seinen Vortrag am Mittwochmorgen „Lügen mit Zahlen“ nannte. Egal ob Verweise von Politikern, Daten von Interessenverbänden oder Statistiken von Stiftungen: Als ehemaliger Mitarbeiter des statistischen Bundesamts kannte sich Herr Bosbach bestens in der Welt der Zahlen und Zahlentrickser aus und beeindruckte so nicht nur die Mathematiker unter uns merklich. Dass eine zahnärztliche Vereinigung durch ein und dieselbe Statistik bei der einen Versammlung zeigen kann, wie schlecht es der Branche doch gehe, und kurze Zeit später bei der anderen, wie erfolgreich sie doch sei, schien auf einmal gar nicht mehr so absurd, wie es zunächst klingen mag. Durch Plausibilitätsüberlegungen, dem Vergleich absoluter und relativer Zahlen, „Yang ohne Yin“, Grafikspielereien und vielen weiteren feinen Tricks kamen wir den Manipulierenden langsam auf die Schliche.
„Politiker benutzen die Statistiken wie ein Betrunkener den Laternenpfahl: nicht, um eine Sache zu beleuchten, sondern um sich daran festzuhalten. Denn: Zahlen wirken objektiv.“ (Prof. Dr. Gerd Bosbach)
Doch obwohl wir die Techniken und Motive der Manipulation von und mit Statistiken allmählich zu durchschauen begannen, fragten wir uns gerade bei aktuellen Beispielen, wie sie sich manchmal in den Medien finden, warum die Statistiktricks trotzdem wirken. „Statistiken sind ein sehr intransparentes Feld„, merkte Herr Bosbach dazu an und ließ gleichzeitig durchblicken, dass mit Zahlen immer ein Anspruch auf Glaubwürdigkeit und Objektivität verbunden sei. Trotzdem sollten diese Erkenntnisse nicht dazu animieren, Statistiken grundsätzlich in die „Fake News“-Schublade einzuordnen: In Hintergrundberichten, wie sie sich ebenfalls in den Medien finden, werden Statistiken durchaus kritisch beleuchtet und angemessen verwendet. Sie können „sauber“ sein, also nicht unter dem Einfluss bestimmter Interessen stehen. Außerdem wären Zukunftsprognosen und damit frühzeitige Planungen ohne sie undenkbar, was wir vermutlich nicht zuletzt an der aktuellen Pandemie-Situation sehen.
Aber auch Bilder spielen zuweilen das Glaubwürdigkeit-Spielchen mit uns, scheinen sie doch die Realität als Momentaufnahmen festzuhalten. Wie groß dabei die Spanne zwischen plumpen Fälschungen und perfiden Bearbeitungstricks ist, zeigte uns am Nachmittag Jens Kriese in seinem Vortrag zu digitaler Bildforensik – Technikpannen bei der Video-Liveschaltung aus Hamburg inklusive. Von Kontrastverstärkungen und Bildrauschen bis hin zu inszenierten Fotos gab es viele Beispiele, bei denen wir zunächst selbst versuchten, die gefälschten Stellen zu erkennen, was bei einem Kanufahrer, der von einem Wal gefressen wird, noch recht einfach schien, bei PCR-Bildgebungen aber mit bloßem Auge schon nahezu unmöglich war. Spannend!
Doch was wären auch die spannendsten Fotos ohne den richtigen Bilderrahmen, kurzum: Wie überzeugt man eigentlich richtig? Unter dem Titel „Die Kunst, zu überzeugen“ brachte uns Julian Neugebauer (WWU Münster) am Donnerstag die Techniken und Tricks der Rhetorik in der Politik etwas näher, vermittelte aber auch Strategien und Hintergrundwissen, das es in sich hatte. Der interaktive Rahmen des Vortrags schien da genau richtig, und so stellte sich Julian, der uns prompt das „Du“ anbot, gelassen unseren unzähligen Fragen von den alten Griechen bis hin zu den jüngsten Beispielen aus Politik und Tagesgeschehen. Dabei vermittelte er uns auch die signifikanten Unterschiede zwischen „Überreden“ und „Überzeugen“, führte uns in Stützdiskussionen und Prämissenoptimierungen ein, erklärte ad-hominem- und ad-rem-Argumente, zeigte jedoch ebenso die simplen und zugleich und wirklich hinterlistigen Methoden der Rhetorik: Wenn uns jemand sagt, wir sollen nicht an Trump denken, an wen denken wir dann direkt?
„Wenn ich sage, es gibt ein fliegendes Spaghettimonster, dann beweist mir mal, dass es das nicht gibt.“ (Julian Neugebauer über Grundsatzdiskussionen)
Viel zu schnell verging die Woche nach meinem Geschmack, und mit ziemlicher Sicherheit war ich nicht die einzige. Aber trotz nicht gerade weniger Bahnverspätungen kam der Freitag schneller als erwartet und gab uns die Gelegenheit, in selbst gewählten Präsentationsformen auf die Woche zurückzublicken. Angefangen bei einem anschaulichen Vortrag zu den biologischen Hintergründen von Assoziationen, die manche von uns möglicherweise immer noch vor Orangen zurückschrecken lassen, über manipulierende Geschichten, bei denen die Erzählperspektive aus kritischem Winkel betrachtet werden musste, bis hin zu einer fulminant-verrückten Simulation des US-Wahlkampfs war wirklich alles dabei – mannigfaltig wie die TeilnehmerInnen selbst.
„Manipulation ist wie ein Spinnennetz: Wenn eine Fliege auf einen Faden trifft, wackelt das ganze Netz.“ (eine Teilnehmerin)
Aber bei aller Vielfalt waren es auch die vielen Gemeinsamkeiten und der Austausch, die die Woche zumindest für meine Wenigkeit zu etwas Besonderem gemacht haben. Es war die zutiefst kritische und reflektierende Einstellung der Beteiligten, die ich so geballt auf einem Haufen noch nie erlebt habe. Und das ist es, was die LernFerien ausmacht; das ist der Grund, warum sich Schülerinnen und Schüler in den Ferien in einem Tagungsraum mit schieferblauem Teppichboden zusammenfinden: Der intensive Austausch über hochaktuelle Themen auf Augenhöhe mit Experten und gleichaltrigen Wissensdurstigen, die Motivation, die Welt, das Unscheinbare, einfach mal mit anderen Augen zu sehen und sich keine Gedanken darüber zu machen, wohin der philosophische Umweg führt. Denn letztlich nehmen wir alle eine Erfahrung mit nach Hause, die uns so schnell keiner nehmen kann: Wir sind mit unserer Art, Begeisterungsfähigkeit und Motivation nicht allein. Wir sind nicht nur Marionetten in großen, undurchsichtigen Systemen. Wir sind auch Puppenspieler, jede und jeder für sich, die gemeinsam in der Welt viel bewegen können, wenn sie an den gleichen Fäden ziehen. Aber heißen diese Fäden wirklich „Manipulation“?
Mir jedenfalls bleibt nur ein großes „Danke“ an alle Beteiligten zu richten, die diese Woche so einzigartig gemacht haben. Ich nehme viel mit zum südlichsten Zipfel Gladbachs, auch wenn mir meine Eltern bereits untersagt haben, das Hobby einer anderen Teilnehmerin auch mal auszuprobieren und Schweineinnereien zu sezieren. Vielleicht sind das ja meine nächsten Marionetten?