– Rede zum Gedenken an den 82. Jahrestag der Reichspogromnacht –
Die folgende Rede war ursprünglich für die Gedenkveranstaltung anlässlich des 82. Jahrestags der Reichspogromnacht bestimmt, die aufgrund des aktuellen Infektionsgeschehens leider abgesagt werden musste.
Sehr geehrte Leserinnen und Leser, Lehrerinnen, Lehrer und Eltern,
liebe Mitschülerinnen und Mitschüler,
eigentlich ist es ein Tag wie jeder andere: Der neunte November ist der dreihundertdreizehnte Tag des Jahres, in diesem Jahr ein Montag. Der neunte November ist ein Tag, an dem das alltägliche Leben zumeist seinen gewohnten Gang geht; Menschen sind unterwegs – unterwegs zur Schule, zur Arbeit oder einfach zu einem friedlichen Herbstspaziergang. Der neunte November ist aber auch ein Tag des Innehaltens, des kurzweiligen Stillstands, der plötzlichen tiefen Ergriffenheit, die ein so geschichtsträchtiges Datum manchmal in den kleinen, unscheinbaren Momenten mit sich bringen kann.
Heute vor 82 Jahren wurden in Deutschland Geschäfte und Wohnungen geplündert, Synagogen niedergebrannt, Friedhöfe verwüstet, Jüdinnen und Juden verhaftet, mehrere von ihnen sogar ermordet.
Die Reichspogromnacht war mehr als nur eine grausame und in ihren Ausmaßen alle Werte und Prinzipien unserer Gesellschaft verachtende Nacht. Sie war mehr als eine historische Zäsur, ein deutlicher Vorbote für die darauffolgenden Schreckensjahre. Es war eine Nacht, in der Deutsche Deutsche demütigten, in der Nachbarn Nachbarn offen verachteten, ja, in der Menschen Menschen entwürdigten. Es war eine Nacht, in der Nachbarn zu Tätern und Nachbarn zu Opfern wurden. Es waren nicht nur die SA-Männer und Funktionäre der NSDAP, es waren auch Menschen aus nächster Nähe, Menschen, die vielleicht tags zuvor ebenso wie wir heute auf dem Weg zur Schule oder zur Arbeit waren, die ebenfalls zuvor einen Spaziergang durch den lebendigen Herbst gemacht hatten. Die Novemberpogrome waren nicht der Beginn der Verfolgung von Jüdinnen und Juden in Deutschland. Dennoch markieren sie eine historische Zäsur, eine Umkehr der anfänglich vermehrt passiven und verstreuten kleineren Hassbotschaften in eine unbegreiflich grausamen, geplant-verselbstständigten, offenen, aktiven, kollektiven Gewaltausbruch. Sie markieren zahlreiche kleine Feuer, verstreut im Alltag der Menschen kleine Brandspuren hinterlassend, die zu einem großen, gefährlichen Feuer des Hasses und der Menschenverachtung zusammenwuchsen.
Selbstverständlich sind die Einzelheiten der Geschehnisse vor, während und nach der Reichspogromnacht vom 09. auf den 10. November 1938 in zahlreichen Geschichtsbüchern nachzulesen, Generationen von Schulklassen kommen an den Novemberpogromen nicht vorbei. Und dennoch, liebe Leserinnen und Leser, ist es für mich als Schülerin ein anderes, in gewisser Weise distanzierteres und wenig betroffenes Gefühl, von Leid und Zerstörung in diversen Großstädten zu lesen, als sich deutlich bewusst zu machen, dass die Verwüstungen und Zerstörungen damals vermutlich auch vor meiner Haustür stattfanden. Es ist ein anderes Gefühl, durch Odenkirchen zu gehen und einen flüchtigen Blick auf die Stelle zu werfen, an der einmal die Odenkirchener Synagoge stand. Auch sie wurde am 10. November 1938 verwüstet, der Innenraum völlig zerstört. Auf eine Brandstiftung verzichtete man lediglich, weil sich das Gotteshaus zwischen Wohnhäusern befand. Es ist auch ein anderes Gefühl, an Häusern vorbeizugehen, in denen vor 82 Jahren Menschen lebten, die kurze Zeit später deportiert wurden und ihre Heimat vielleicht nie wieder sahen. Menschen, die möglicherweise sogar von ihren eigenen Nachbarn denunziert, von ihren eigenen Nachbarn verraten wurden. Selbst Kinder wurden zu Opfern der Gewalt. Menschen wie Manfred Leven, der 1938 gerade einmal acht Jahre alt war, wurde der Boden unter den Füßen weggerissen – zunächst in Form von Rissen, die dann immer größer wurden und zu nahezu unüberwindbaren Schluchten auswuchsen, deren Abgründe für Generationen wie die meine unergründlich sind. Und diese Schluchten rissen die Welt, das Leben, die Heimat unserer jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger mit sich. Es waren nicht nur Nachbarn, Bekannte und Freunde, nicht nur Sicherheit, Schutz und Vertrauen, nicht nur Eigentum und Heimat, die verloren gingen: Auch Menschlichkeit, so natürlich und selbstverständlich sie doch eigentlich für die Menschen sein sollte, scheint verloren gegangen zu sein. Anne Frank schrieb einst: „Einmal werden wir doch wieder Menschen und nicht nur Juden sein.“ – eine Aussage, die treffender und zugleich unbegreiflicher kaum sein könnte. Die Folgen der Reichspogromnacht mahnen uns heute noch mitten in unserer vertrauten Umgebung vor dem Vergessen: 1942 sollen keine Jüdinnen und Juden mehr in Odenkirchen gelebt haben.
Heute erinnert nicht mehr viel an die ursprüngliche jüdische Gemeinde in Odenkirchen. Die Synagoge wurde während des Zweiten Weltkriegs zerstört, der Friedhof ist für die Öffentlichkeit aus Angst vor Vandalismus und Antisemitismus heute nicht mehr zugänglich, und die wenigsten Menschen in meinem bescheidenen Alter von achtzehn Jahren sind sich der Spuren, der Furchen, die die Judenverfolgung und letztlich auch die Shoa in unserer Heimat, vielleicht sogar in unseren Wurzeln hinterlassen hat, außerhalb vergilbter Schulbuchseiten deutlich bewusst. Auch ich zähle mich zu dieser im Großen und Ganzen viel zu wissen glaubenden Masse und weiß doch im Grunde so gut wie nichts. Ich kann tagtäglich an der kleinen Messingplatte auf meinem Schulweg vorbeigehen und bleibe doch nur selten stehen. Ich führe ein Leben wie jeder andere junge Mensch auch, folge zielstrebig meinem Weg und schaue nach vorne; dabei vergesse ich aber viel zu oft, auch einen Blick zurück zu werfen, um den Weg, der mir noch bevorsteht, so vorausschauender zu beschreiten.
Haben wir uns nicht alle schon oft gefragt, ob unsere Großeltern ebenso wie wir heute Nachbarn waren, die zu Tätern wurden? Hätten wir damals selbst gehandelt? Oder hätten wir uns versteckt? Hätten wir Widerstand geleistet? Oder wären wir zu Mittätern geworden, geschützt durch die große, teilweise anonyme Masse? Wem diese Fragen sinnlos erscheinen, der stellt vermutlich fest: Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern. Wer sich diese Fragen aber dennoch stellt, der erkennt vielleicht, dass das „hätte“ unweigerlich mit einem „würde“ und sogar einem „werde“ verbunden ist. Die Reichspogromnacht ist Teil einer Vergangenheit, die nie vergeht. Unserer Vergangenheit, die nie vergeht.
Und hier müssen wir, Sie und ich, wir alle, liebe Leserinnen und Leser, die Brücke in die Gegenwart und Zukunft schlagen. Wir waren nicht dabei, wir haben die Zerstörungen, die Quälerei und das Leid nie miterlebt. Dennoch ist es ein Teil unserer kollektiven Vergangenheit und damit auch unserer Erinnerungskultur. Der Begriff Erinnerungskultur meint dabei nicht nur, dass wir uns die Geschichte, die auch zu uns gehört, immer wieder ins Gedächtnis rufen, sondern verlangt auch den bewussten und aktiven Umgang mit der Vergangenheit. Die Judenverfolgung und schließlich auch der Holocaust sind ebenso Teil unserer Erinnerungskultur wie die Stolpersteine, die Schülerinnen und Schüler an einem grauen Novembernachmittag mit einer Essig-Salz-Lösung von Dreck und Witterungseinflüssen befreien und damit denjenigen, die auf diesen Stolpersteinen verewigt sind, ihren Respekt zollen.
Sind es nicht die vielen kleinen Dinge, die von Hass, Rassismus, Antijudaismus und Antisemitismus zeugen? Und sind es nicht ebenso die vielen kleinen Gesten der Solidarität, Zivilcourage und Toleranz, die deutlich machen, dass Hass und Antisemitismus in unseren Herzen keinen Platz haben?
Ich bin der festen Überzeugung, dass der Umgang mit der Vergangenheit und die Aufarbeitung der Gräueltaten während der NS-Zeit uns alle betreffen, denn sie sind ein Teil unserer Identität. Wenn ich im gelegentlich im Ausland gefragt werde, wie ich als Deutsche mit dem Gefühl der Erbschuld, das auch auf meinen Schultern lastet, umgehe, weiß ich keine Patentantwort. Vielleicht gibt es sie auch gar nicht. Wenn ich gefragt werde, ob ich meine Vorfahren nicht dafür verurteile und mich für mein Heimatland schäme, weiß ich ebenfalls keine Antwort. Ich weiß nicht, was ich getan hätte und was ich noch tun werde, ich kenne lediglich meine Überzeugungen und Werte, der wichtigste davon: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Ich kann nicht verhindern, dass im Bus, auf dem Schulhof, manchmal vielleicht sogar in meinem Freundeskreis rassistische, diskriminierende und antisemitische Witze gerissen werden und „Jude“ als Schimpfwort gilt, möglicherweise unbewusst. Aber ich kann meine Mitmenschen darauf aufmerksam machen und mich klar gegen diese Äußerungen stellen. Es ist nicht meine Verantwortung, meine Vorfahren zum Reden zu zwingen und ehrlich gesagt fällt es mir auch schwer, über sie zu urteilen – ich habe schließlich leicht reden. Es ist aber sehr wohl meine Verantwortung, offen und respektvoll gegenüber denjenigen zu sein, die Widerstand geleistet haben oder überlebt haben, den Zeitzeugen zu lauschen, denn es sind meist ihre Stimmen, die unsere Erinnerungen wach halten. Es ist meine Verantwortung, diese Erinnerungen weiterzugeben und zu verbreiten, sie auch für mich, die ich mir das Grauen der NS-Zeit nicht in seiner Gänze vorstellen kann, zugänglich zu machen, denn es sind das Verständnis und die darauffolgende Demut, die uns dazu befähigen, diese Verantwortung zu tragen.
Vielleicht halten dann demnächst noch mehr Menschen mitten im hektischen Alltag inne und werden von einer tiefen Demut ergriffen, wie ich es werde, wenn ich es wage, an der kleinen Messingplatte auf meinem Schulweg innezuhalten. Liebe Leserinnen und Leser: Bleiben Sie stehen und schauen sie einen Moment zurück, denn die Vergangenheit vergeht nicht. Niemand kann und darf dauerhaft die Augen vor ihr verschließen, weil sie gleichzeitig auch unsere Zukunft ist. Und genau aus diesem Grund möchte ich diese Rede mit einem berühmten Zitat des Holocaust-Überlebenden Max Mannheimer beenden: „Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah, aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.“