Vom 02. bis 13. November 2020 war die Ausstellung „We, the six million“ der RWTH Aachen zu Gast an unserer Schule. Begleitet von zahlreichen Projekten rund um die Ausstellung setzten sich Schülerinnen und Schüler sämtlicher Jahrgänge mit dem Holocaust und seinen Folgen vor der eigenen Haustür auseinander. Wir blicken zurück:
„Die Schule ist ein Ort, der auf das Leben vorbereitet“ – dieser Spruch ist vermutlich jedem Schüler und jeder Schülerin in unzähligen Abwandlungen bekannt. Schule richtet dabei den Blick auf die Zukunft, individuell wie allgemein, auf die man hinarbeitet, wie auch auf die Gegenwart, die in die Zukunft führt. Schule richtet aber auch den Blick zurück auf die Vergangenheit, ohne die die Gegenwart und die Zukunft nicht das wären, was sie sind.
Tradition hat am Gymnasium Odenkirchen wortwörtlich eine lange Tradition: Sowohl die Schul- und Stadtteilgeschichte, als auch die Werte, die hier seit jeher vermittelt werden, sind eindeutig ein Teil der Identität der Schule auf der Höhe. Tradition kann etwas Schönes sein, und so blicken wir zumeist mit Stolz auf unsere Vergangenheit zurück, Tradition beinhaltet aber auch die Auseinandersetzung mit zutiefst grausamen Epochen wie dem Holocaust, dessen Folgen auch auf Mönchengladbach, auch auf uns nach wie vor lasten. Aber nehmen wir Schülerinnen und Schüler, die wir nunmal keine direkte Verbindung mehr zu der Zeit des Nationalsozialismus haben und vielleicht auch keine Großeltern mehr haben, die uns davon erzählen können oder wollen, die Last, die auch auf unseren Schultern lastet, in der heutigen Zeit noch richtig wahr? Geht uns das überhaupt etwas an?
Seit 2018 tourt die Ausstellung „We, the six million“ durch zahlreiche Schulen im Rheinland, um Schülerinnen und Schülern einen Einstieg in ein Thema zu geben, das sonst nur sehr schwer zugänglich ist. Stets im Gepäck: Biografien. Lebenswege von Opfern der Shoah aus dem westlichen Rheinland, festgehalten auf sogenannten Roll-Ups. Für jede Biografie stehen zwei dieser Roll-Ups, die zwar im Gesamtbild korrespondieren, jedoch charakteristischer Weise eine Trennung aufweisen, die sich auch inhaltlich widerspiegelt und sich zumeist auf das Jahr 1938 datieren lässt. Für die meisten Opfer der Shoah, deren Schicksal in der Ausstellung ein Gesicht bekommt, ist das Jahr 1938 ein tiefer Einschnitt, da einerseits die Verfolgung durch die Nationalsozialisten spätestens ab der Reichspogromnacht vom 09./10. November eine ganz neue, schreckliche Dimension erreicht, andererseits aber auch eine Zeit der Flucht und Vertreibung, der Emigration und der gezwungenen Neuorientierung stattfindet. „We, the six million“ basiert auf den sogenannten Entschädigungsakten, die oftmals von Holocaust-Überlebenden, seltener von deren Angehörigen beantragt wurden, weshalb die meisten Biografien sich auf deren Flucht und Emigration beziehen.
Doch es gibt auch Ausnahmen. Ausnahmen wie den Odenkirchener Manfred Leven, der Theresienstadt, Auschwitz und Buchenwald überlebte und zurückkehrte.
Im Alter von gerade einmal acht Jahren wird Manfred Leven 1938 von der Gestapo aufgegriffen und später in ein Frankfurter Waisenhaus gebracht. Seine Geschichte, die von Quälerei, Leid und Tod geprägt ist, zieht sich auch durch das Konzentrationslager Theresienstadt, wo er als Kind schwere körperliche Arbeiten verrichten muss. Es ist der starke Lebenswille, der den Jungen am Leben hält und auch seine weitere Zukunft noch wesentlich bestimmen wird.
„In Birkenau bekam ich die Nummer […] tätowiert. A 1663! Du hast keinen Namen mehr! Du bist nichts mehr – nur A1663!“ (Manfred Leven)
1942 wird Manfred Leven nach Auschwitz deportiert – nicht nur für Zeitzeugen das Sinnbild des Holocaust und der Menschenverachtung in einem Maß, das es so noch nie gegeben hat. Auf seinen Unterarm wird die Häftlingsnummer A 1663 tätowiert. Bei der Arbeit im Sonderkommando muss er die Kleider der Ermordeten aus den Gaskammern holen und Leichen in die Verbrennungsöfen legen – Bilder, die wir uns nicht einmal vorstellen können. Und doch ist es wieder einmal sein Lebenswille, der ihn zum Durchhalten drängt, ihn das Unerträgliche durchstehen lässt und ihn letztlich auch nach Buchenwald begleitet, wo er 1945 befreit wird.
Eine sehr beeindruckende Lebensgeschichte einer sehr starken Persönlichkeit, wie auch der Geschichts-LK der Q2 fand, der Manfred Leven ein eigenes Roll-Up widmete, das seit November 2020 ebenfalls Teil der Ausstellung ist. So beeindruckend Manfred Levens Geschichte aber ist, so komplex und vielschichtig ist sie zugleich. Und es lässt sich nicht verschweigen, dass die angehenden Abiturienten viele Stunden mit Diskussionen verbracht haben, um Manfred Leven in insgesamt 1800 Zeichen angemessen zu würdigen. Die tiefe Auseinandersetzung und vor allem der Austausch über das Thema, bei dem die Schülerinnen und Schüler auch nicht davor scheuten, die Vorgaben und Ratschläge der Delegation der RWTH Aachen zu kritisieren, bildeten den Geist des Projekts. Denn: Manfred Leven war nicht nur das tapfere Kind, der willensstarke Mann, der das Grauen überlebte. Er war auch der Zerrissene, der das Leid nie vergessen konnte und stets unter den Erinnerungen litt. Trotz der Traumata auf die Straße zu gehen, Schulen zu besuchen und zu sprechen – das ist nicht selbstverständlich. Genau das hat Manfred Leven getan, und genau das ist es, was seine Willensstärke auszeichnet.
Natürlich sind die Vorgaben einer Universität hoch wissenschaftlich und sehr dogmatisch, sodass es nur ein Bruchteil der Geschichte, die Manfred Leven bis heute überlebt, auf die beiden Roll-Ups geschafft hat. Um auch den vielen kleinen, aber bewegenden Momenten Ausdruck zu verleihen, entwickelten die Jahrgänge 8 und 9 Plakate mit den Lebensstationen von Manfred Leven sowie Podcasts, die der Erinnerung künftig eine Stimme geben.
Ein ebenfalls zentrales Schicksal ist das der Martha Steuber, der zweiten Ehefrau von Otto Leven und damit Manfred Levens Stiefmutter. Mit ihrer Entschlossenheit und ihrem Einsatz brachte sie zahlreiche jüdische Kinder über die belgische Grenze und rettete ihnen so das Leben. Um auch ihrem Verdienst Anerkennung zu zollen, entwickelten die Geschichts-Grundkurse der Q2 Entwürfe für Gedenktafeln, die an Martha Steuber erinnern sollen. Diese Entwürfe wurden auch an die Stadt Mönchengladbach überreicht in der Hoffnung, bald einen festen Platz in der Stadt zu erhalten.
Neben vielen Blicken in die Vergangenheit wurde aber auch in die Gegenwart und Zukunft geschaut: Sei es durch gefühlvolle Nachrufe für Manfred Leven und Martha Steuber der Jahrgänge acht und neun, oder durch unterschiedliche Projekte, die sich mit Rassismus und Antisemitismus heute befassen und zeigen, dass das Erinnern nie wichtiger war als jetzt. Es sind reale Probleme und erschreckende Tatsachen, die auch vor unserer Haustür geschehen und vor denen auch wir nicht die Augen verschließen dürfen. Die Jahrgänge EF und Q1 zeigten mit ihren Plakaten deutlich: Selbst bei einem harmlosen Fußballspiel kann Antisemitismus schon allgegenwärtig sein; umso wichtiger ist es, sich klar dagegen zu stellen.
Dazu zählt auch eine etwas außergewöhnliche Aktion der Jahrgänge 9 und Q2: Ausgestattet mit einer Essig-Salz-Lösung, Wasser und Schwämmen reinigten die Schülerinnen und Schüler Stolpersteine in Odenkirchen, die zusätzlich in einem Stolperstein-Rundweg der Klassen 9 und EF dokumentiert wurden. Den Artikel zur Stolperstein-Reinigungsaktion finden Sie hier.
Ein besonderes Highlight bot der Besuch von Christel Leven, der Ehefrau Manfred Levens, für drei Schülerguides der Jahrgangsstufe Q2, die ihr am 09. November die Ausstellung, insbesondere natürlich die Projektarbeiten zu ihrem Mann zeigten. Spannung und Aufregung lagen vor dem Treffen in der Luft – schließlich trifft man nicht alle Tage eine Zeitzeugin, und dann noch eine, die den Mann, mit dem sich die Gruppe wochenlang beschäftigt hatte, besser kannte als viele andere. Nach einer kurzen Kennenlernrunde, bei der uns Frau Leven unter anderem die ehemaligen Reisedokumente ihres Mannes zeigte, ging es in die Ausstellung und zu den mühevoll erarbeiteten Projekten. Es war rührend zu sehen und zu hören, wie dankbar die alte Dame für die Dokumentation der Lebensgeschichte Manfred Levens war. „So war es“, meinte sie und nahm uns allen damit die Sorge, der Herausforderung nicht gerecht geworden zu sein.
„Es war keine leichte Zeit, aber wir haben es geschafft.“ (Christel Leven)
Was allen Beteiligten an diesem Tag noch einmal deutlich bewusst wurde: Die Vergangenheit vergeht nicht. Frau Leven berichtete uns von den Albträumen ihres Mannes, von der quälenden Erinnerung, aber auch, wie die beiden es trotzdem schafften, damit umzugehen. Mit viel Ruhe beantwortete sie alle Fragen, die wir ihr stellten, obwohl diese Offenheit sicherlich nicht immer einfach ist. Als sich das Gespräch dem Umgang der jungen Generationen mit dem Holocaust zuwandte, fanden auch die Schülerinnen deutliche Worte: Es sind die Stimmen der Überlebenden, die unsere Erinnerungen wach halten und vor dem Vergessen mahnen, ebenso, vielleicht sogar darüber hinaus, ist es aber die Aufgabe der jüngeren Generationen, offen gegenüber den Berichten der Zeitzeugen zu sein, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, diese anzuerkennen und in die Welt zu tragen. Denn wie sagte der Holocaust-Überlebende Max Mannheimer einmal? „Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah, aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.“
„We, the six million“ mag nur der Anfang einer großen Aufgabe, vermutlich sogar einer Menschheitsaufgabe sein, und wie dieser lange Artikel bereits anmuten lässt, sind es die unzähligen kleinen Dinge, die bereits gegen das Vergessen kämpfen. Kleine Dinge, die diese Arbeit mehr als wert sind. Wir sind ein Teil der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wir sind ein Teil der Erinnerung. Und wir sind ein Teil der Verantwortung, die Fäden der Zukunft an das Netz der Vergangenheit anzuknüpfen.
Ein besonderer Dank gilt neben Frau Leven und den anderen freiwilligen Unterstützern, darunter unser ehemaliger Kollege Gerd W. Hochscherf, den über die Maße engagierten Lehrerinnen und Lehrern, namentlich Frau Laule, Frau Beberok, Frau Praas, Frau Getz, Frau Strahl, Herrn Cremers, Herrn Heller, Herrn Bünstorf und Herrn Hoffmann, die auch in ihrer Freizeit viele Stunden in das Gelingen des Projekts investiert haben. Aber auch den Schülerinnen und Schülern gilt ein großes Lob, sich auf dieses Projekt eingelassen und es aktiv mitgestaltet zu haben.
Das Projekt „We, the six million“ am Gymnasium Odenkirchen ist ab sofort auch auf einer eigenen Seite dieser Schulwebsite zu finden. Dort finden Sie alle Teilprojekte, Plakate, Podcasts und viele weitere Informationen rund um die Ausstellung. Hier gelangen Sie zur Seite.